Chance und Risiko für große Energieerzeuger und -verbraucher
Mediziner mögen sie ja nicht so, die „Freien Radikalen“. Wegen des oxidativen Stresses im Gewebe. Wir sehen das etwas anders. Wenn man wie wir mitten im Jahrhundertprojekt Energiewende als Berater und Planer sowohl für die Chemie- und Pharmaindustrie als auch für private und öffentliche Energieversorger und Netzbetreiber unterwegs ist, dann braucht es aktuell eine gewisse Freiheit und Radikalität im Denken. Weil derzeit alles in Bewegung ist – und das auch noch gleichzeitig.
Energiewende im Chemiesektor
In der Chemiebranche geht es heute nicht einfach darum, mit Detailverbesserungen und Mikromanagement hier und da die CO2-Bilanz etwas aufzuhübschen. Der Sektor erfindet sich gerade komplett neu. Carbon-to-Chem, Power-to-Heat, E-Fuels, Prozess-Elektrifizierung, Wasserstoff-Elektrolyse, Kohlenstoff-Kreislaufwirtschaft, Prosumenten-Konzept, Fuel Switch, Sektorenkopplung, Direct Air Capturing – die neuen Begriffswelten zeigen, wohin die Reise geht: Ziel ist ein wirklich radikaler Umbau aller Unternehmens- und Produktionsprozesse, orientiert an der nachhaltigen Optimierung von Energieeffizienz und Carbon Footprint. Chemie und Energie sind nicht mehr getrennt voneinander zu denken.
Dabei stellen auch wir als Berater uns komplett um und arbeiten noch konsequenter „ganzheitlich“. Das ist auch notwendig: Wenn sich so mancher Chemiepark in den nächsten Jahren durch intelligente Transformation vom Energie-Großverbraucher zum Netto-Einspeiser entwickelt, dann hat das Konsequenzen für die öffentlichen, lokalen und überregionalen Energieerzeugungs- und -verteilungsinfrastrukturen. „Think big“ und reibungsarme Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Entscheidungsträgern sind da angesagt. Energetisch und prozessual autarke Verbund-Cluster müssen harmonieren mit den großen, neuen Verteilungsnetzen für erneuerbare Energien. Und die neue Wasserstoff-Ökonomie ist faktisch eine Revolution in der Revolution mit ihren ganz eigenen Gesetzen.
Die Herausforderungen neuer Technologien
Wem das noch nicht reicht an Schwierigkeitsgraden, dem empfehlen wir die Beschäftigung mit Themen wie technologischer Disruption. Ein Beispiel: Nichts macht eine langfristig und sorgfältig ausgearbeitete energetische Transformationsstrategie schneller obsolet als eine neue Generation von Speichermedien, die in Bezug auf Energiedichte, Sicherheit, Umweltverträglichkeit und Lebensdauer alles Bisherige in den Schatten stellt. Kommt sie? Wenn ja, wann? Kann und sollte ich sie schon integrieren in meine Umbaupläne? Tangiert sie vielleicht gar die Standortauswahl für eine Produktionsstätte? Vielleicht macht das den wichtigsten Unterschied: Ein Mindset zu entwickeln, dass im Planungsprozess auf fundamentaler Ebene offen bleibt für solche radikalen und schnellen Veränderungen der Rahmenbedingungen.
Die Neuordnung der energetischen Landkarte
Die beste technische Expertise nutzt wenig, wenn sie nicht ergänzt wird, durch Verständnis für die politische Dimension dieser Transformation. Wir erleben aktuell nichts anderes als eine komplette Neuordnung der energetischen Landkarte, die die Kräfteverhältnisse zwischen Großverbrauchern und Erzeugern, Kommunen und Gebietskörperschaften komplett neu sortieren kann. Darüber hinaus fordern betroffene Bürger*innen heute mit gutem Recht frühzeitige Beteiligung und Berücksichtigung ihrer Interessen. In diesen Kontext gehören natürlich auch die komplexen Planungs- und Genehmigungsprozesse im Turbo-Modus – selbstredend ohne Abstriche bei Ergebnisqualität, Ökologie, Naturschutz und Sicherheit. Wer da mögliche Zielkonflikte frühzeitig antizipiert und über professionelle Prozesse und Tools verfügt, vermeidet teure Verzögerungen oder gar Investitionsruinen.
Die vielleicht anspruchsvollste Herausforderung: Sowohl die „chemisch“ optimierte Energiewende als auch die energetisch runderneuerte Chemiebranche müssen während und nach der Transformation so effizient bleiben, dass sie ihre Produkte wettbewerbsfähig auf dem grenzübergreifenden Markt anbieten können. Das funktioniert nur, wenn aus jedem investierten Euro maximaler Mehrwert generiert wird. Ein Erfahrungswert aus unserer Praxis: Je mutiger und entschlossener die modernsten digitalen Werkzeuge in allen Projekt-Etappen und Lebenszyklusphasen von Assets eingesetzt werden, umso entspannter warten CEOs, Erzeuger und Netzbetreiber auf die nächste Jahresbilanz.
Kurzum: Wenn es um das neue, „enerchemische“ Deutschland und Europa geht, sollten wir uns alle ein wenig mehr freie Radikalität zugestehen. Und wer wen erfolgreich transformiert hat, darauf kommt es dann eigentlich nicht mehr an …